Ballenstedt, 28.07.2019

Abgestumpft

I: Ich will nochmal auf gestern zurückkommen, wo du Geschichten aus Ballenstedt erzählt hast. Wie ist das für dich, wenn du diese ganzen Geschichten im Kopf hast und hier jetzt in Ballenstedt nach so vielen Jahren wieder lebst? Also sind die Geschichten präsent, wenn du zum Beispiel durch die Straßen gehst?

B: Wenn ich durch die besagte Straße fahre, dann denke ich da nicht einmal, sondern fast immer dran. Dass das damals so passiert ist.

I: Es ist eine parallele Erinnerung, die ständig da ist?

B: Ja.

I: Und das ist mit allen Fällen so in den unterschiedlichen Orten? Also zum Beispiel, wenn du in Hoym bist?

B: In Hoym ist ja wenig passiert. Einmal ein Suizid. Da hat sich einer aufgehangen. Es war abends dunkel, es war kein Licht da und ich hatte auch keine Taschenlampe mit. Und der Mann hat sich in dem Türrahmen aufgehängt und hing also in der Tür. Und ich bin dann dagegen gestoßen. Das ist alles so was. Das merkt man sich und das ist entweder lustig oder nicht lustig.

Dann waren wir in Aschersleben, da hatte sich auch einer aufgehängt und der hatte Holz gehackt. Er saß auf dem Hackklotz, Strick um den Hals und war tot. Alles so ein Quatsch. Oder in Aschersleben hat sich ein Kohlenhändler vergast. Er hatte zwei kleine Kinder, die waren vielleicht so drei oder vier Jahre. Und der hat sich vor den Gasherd gesetzt, Klappe aufgemacht, alles aufgedreht und hat sich dann dort vergiftet.

I: Die Kinder mit?

B: Nein, nein. Und als wir gerufen wurden, haben die Kinder den Vater immer am Arm hin und hergezogen und alles so was. Das war natürlich tragisch.

I: Aber das heißt, diese Geschichten sind immer präsent?

B: So eine Phase gibt es immer mal. Ich hatte jetzt mal so eine Phase. Ich habe auch Träume davon, wo sich aber alles vermischt.

I: Und diese Phasen hattest du auch, als du den Beruf noch ausgeübt hast?

B: Nein, nein.

I: Da nicht?

B: Da warst du abgestumpft.

Jeder von uns der damit zu tun hatte. Wenn du zur Sektion gegangen bist, das war, als ob da ein Schwein geschlachtet wurde. Die Toten wurden aufgeschnitten von oben bis unten, auseinander gedreht, alles rausgeholt und dann liegt es da, sieht fürchterlich aus. Naja, bloß wenn du das jede Woche einmal oder zweimal siehst, stumpfst du ab. Wir mussten ja zur Gerichtsmedizin. Einer von uns musste da immer dabei sein.

I: Das heißt, im Prinzip war gar keine Zeit da, um alles zu reflektieren?

B: Ach wo, nein, nein.

Ordnung und Sicherheit

I: Was denkst Du, wie zukünftige Verbrechen aussehen?

B: Bitte?

I: Wie zukünftige Verbrechen aussehen, wenn sich alles verändert?

B: Was soll sich verändern? Es hat sich in Sachen Kriminalität und Verbrechen eigentlich wenig verändert. Die Kapitalverbrechen Mord und Totschlag vor 60, 70 oder 100 Jahren waren genauso grausam wie heute. Heute sind es bloß viel, viel mehr geworden. Und was wird sich ändern? Die Gewalt nimmt zu, weil es den Menschen zu gut geht. So sehe ich das. Denen geht es zu gut. Es fehlt an ordentlicher Disziplin bei den Menschen, die eben auch von klein auf nicht richtig erzogen werden. So muss ich das sagen. Von der Schule und vom Kindergarten aus. Ich sage immer, das ganze Leben besteht ja eigentlich aus Disziplin. Denn jedes bisschen, wenn ich in die Schule gehe und ich will lernen und ich will was werden, muss ich das diszipliniert machen. Ich kann nicht einfach mal da drüber gucken und dann habe ich das vergessen und kann es nicht. Guck doch mal wie man das heute sieht, dass sie kaum noch richtig schreiben und lesen können und was nicht alles. Viele, viele, nicht alle. Das ganze Leben besteht aus Disziplin. Ich muss früh zur Arbeit, muss mich anziehen und alles ordentlich fertig machen usw., sonst kann ich nicht leben. Sonst habe ich auch keine Chance, ein bisschen ordentlich zu leben. Ja, ist doch so.

So wie sich das abzeichnet, dass eben jeder machen kann, was er will, auch seine Meinung sagen. Das soll man ja auch machen. Aber man muss dann auch abwägen, ob das was ich sage richtig ist gegenüber anderen. Und langsam geht das schon bald in eine Anarchie über, so sehe ich das. Und das zeichnet sich auch beim Verbrechen ab. Wenn irgendeiner sagt, du Blödian zu einem Autofahrer, dann hält der vor mir an, steigt aus und schlägt mir die Scheibe kaputt. Oder haut mir den Kopf ein vor Wut, weil ich zu dem irgendwas gesagt habe. So ist es doch schon. Ein bisschen Ordnung muss schon sein. Deswegen heißt es ja Ordnung und Sicherheit.

Loch im Herz

I: Wie fühlst du dich mit deiner bevorstehenden Operation?

B: Tja, ich weiß nicht wie das wird. Denn das kann kompliziert werden, das kann auch einfach werden. Das wissen die Ärzte nicht. Das hat er mir ja auch gesagt.

I: Je nachdem wie die Situation ist?

B: Naja, wenn alles normal läuft. Wenn die Sonden noch alle in Ordnung sind, sollte es eigentlich keine großen Schwierigkeitengeben. Dann wird das hier alles aufgeschnitten. Ich weiß ja nicht, wie groß der neue Defi (Defibrillator) ist. Der jetzt drin ist, der ist so groß wie ein Handteller. Das wird aufgeschnitten und dann freigelegt nehme ich an. Und dann werden Stents in die Hauptvene gesetzt.

I: Das bleibt ja alles da, oder? Da wird ja nichts rausgenommen, die Zuführungen meine ich?

B: Nein, die Zuführungen bleiben drin. Es wird kontrolliert, ob sie alle in Ordnung sind. Wenn eine kaputt ist, dann muss eine neue rein. Aber die können die alte ja nicht rausnehmen, weil die mit dem Herz verwachsen ist. Sonst müssen sie eine ganze Herzoperation machen. Dann können sie mir auch ein neues Herz reinsetzen.

I: Das geht glaube ich nicht so schnell.

B: So schnell geht das nicht.

I: So schnell liegt kein Herz parat.

B: Das will ich auch gar nicht.

I: Wie lange hast du den Herzschrittmacher?

B: Den ersten drei Jahre und den hier habe ich jetzt sechs Jahre. Wenn ich den nicht gehabt hätte, wäre ich ja schon drei Mal tot. Die Ärzte haben ihre Arbeit gut gemacht. Ich habe mir meine Unterlagen angeguckt. Das war im Elisabeth Krankenhaus, da warst Du auch.

I: Wieso war ich da? Ich kann mich nicht daran erinnern.

B: Da warst Du.

I: Ich habe dich dort besucht, oder was?

B: Nein, Du warst dort.

I: Ich war da?

B: Wie alt warst Du da? Zweieinhalb, drei Jahre.

I: Oh, na da kann ich mich nicht dran erinnern.

B: Nein. drei oder noch jünger? Sie haben in der Krippe vermutet, dass du ein Loch im Herz hast. Nirgendwo hatten sie die nötigen Geräte, nur im katholischen Krankenhaus Elisabeth in Halle/Saale. Die hatten viel vom Westen. Da haben sie dich dann aufgenommen. Oh, ich weiß noch, da haben sie dich angebunden. Die Beine auch an so ein Gerät.

I: Da muss ich doch geweint haben, oder?

B: Naja, ein bisschen hast du schon geschrien aber nicht so doll. Du warst ein sehr pflegeleichtes Mädchen.

I: Und dann, was haben sie dann gemacht, als ich da so lag?

B: Sie haben dich gründlich untersucht und festgestellt, dass dein Herz in Ordnung ist.

I: Wieso haben sie in der Kita gedacht, dass ich ein Loch im Herz habe? Was sind die Symptome?

B: Deine Herztöne waren nicht gut.

I: Da kann ich mich nicht dran erinnern.

B: Das war aber gut so. Wirklich, die haben das gut in dem Elisabeth Krankenhaus gemacht. Naja, siehst du, so war das.

I: Also du fühlst dich sicher, wenn du dort hingehst zur Operation?

B: Naja sicher, sicher, kannst du nie sein. Kann doch immer Komplikationen geben, immer. Ich sollte ja schon immer eine Herzklappe haben, aber das wollte ich nicht. Ich habe immer an die Sektionen gedacht. Wie so ein geschlachtetes Schwein habe ich gesagt, nein ich will das noch nicht.

I: Okay, aber jetzt ist es anders?

B: Jetzt ist es nur so ein kleiner Stich in die Rippe.

I: Ja, aber ich hoffe, dass alles gut geht.

B: Ja, läuft schon. Wenn nicht, dann eben nicht. Hat der Mensch zu lange gelebt, wird Zeit, dass er geht.

I: Du bist ja jetzt schon in einem stolzen Alter. Wie lange würdest du denn am liebsten leben?

B: Ich? Wenn es mir aussuchen könnte, solange wie ich mich selbst versorgen kann, wenn das nicht mehr ist, ist auch Schluss, absolut.

I: Du meinst, wenn dein Körper und Geist nicht mehr will?

B: Ja.

Akteneinsicht

I: Wie ist eigentlich Mutti mit deinem Beruf umgegangen? Weil du ja oft nicht da warst?

B: Das hat sich eigentlich so eingebürgert. Das war ganz normal.

I: Hast du Mutti von den Fällen erzählt? Durftest du überhaupt was erzählen?

B: Na klar konnte man erzählen. Aber ich habe darüber nie gesprochen, gar nicht. Einmal wurde ich emotional mit dem Fall zu Heiligabend, wo der Vater seinen Sohn aufgehängt hat. Aber ansonsten haben wir privat nicht darüber geredet.

Ich habe ihr auch nie über meine besonderen Handlungsmöglichkeiten erzählt. Ich hatte meinen Ausweis, meine Dienstmarke und noch einen speziellen Schein hinten im Dienstausweis drin, dass ich nicht kontrolliert werden durfte, war verboten. Ich konnte im ganzen Bezirk Halle, in jedem Volkspolizei-Kreisamt Akteneinsicht haben.

Auch die Meldewesen Akten, konnte ich alles selbstständig angucken. Ich durfte auch überall Halten und Parken, zum Beispiel wenn ich Pilze suchen gegangen bin, war das hilfreich. Ja, das war meistens in Neudorf oder in Meißdorf. Da bin ich immer die Straßen reingefahren, durfte man eigentlich nicht und habe Pilze gesucht.

I: Deswegen hast du immer die besten Pilze gefunden.

B: Ja, ja. Wenn da ein Förster kam, der konnte nichts machen. Ich musste ja nicht sagen, dass ich Pilze suche. Aber der hat die Pilze gesehen, ich hatte meistens immer so einen Korb voll.

I: Was gab es noch für Privilegien?

B: Privilegien hatten wir eigentlich privat nicht, nur wenn es dienstlich war.

I: Wie weit wurde eigentlich mit der Stasi zusammengearbeitet?

B: Ja mit der Stasi. Wir hatten eigentlich wenig Kontakt. Es wurde eigentlich nur zusammengearbeitet, wenn es zum Beispiel um ungeklärte Fälle ging oder auch wie zum Beispiel beim Kreuzworträtselmord. Die hatten viel mehr Informationen, als wir in der K1. Wir hatten ja immer nur Informanden zu dem speziellen Fall, keine Allgemeinen. Wer was erzählt hat usw., so ein Quatsch, gab es bei uns nicht. Später sollten wir immer unsere Informationen geben. Aber das hat kaum jemand gemacht.

I: Aber hat die Stasi eine Art Kontrolle über euch gehabt?

B: Naja na klar haben sie auch Informanden bei uns angeworben. Weißt du, dass Schlimme war ja, wenn sie nicht so intelligente Leute in die Kriminalpolizei rein bugsiert haben. Und dann hast du das ja bemerkt, denn die haben ja weiter nichts gemacht. Entweder sind sie gleich Parteisekretär geworden und haben weiter nichts gemacht. Oder dann die Leute, die uns ständig ausspioniert haben. Dann musstest du immer schön den Mund halten. Das war nicht so gut. Aber das ist schnell bekannt geworden.

I: Hattest Du eigentlich mal Akteneinsicht von Dir beantragt?

B: Nein. Keine Ambitionen bis jetzt dazu gehabt.

B: Ich hatte in Aschersleben einen ganz tollen Informanden. Der war unglaublich. Der hat viele Straftaten zu aufklären gebracht. Der war gut, der war Fensterputzer. Der hatte zu der Unterwelt in Aschersleben Verbindungen gehabt. Da waren viele neidisch, dass ich immer so gute Informationen hatte, wer wo was gemacht hatte, usw.

I: Und der ist nie aufgeflogen?

B: Nein, nein. Dafür habe ich gesorgt. Aber mehr erzähle ich nicht. Schluss.